
Kommentar LZ Rheinland Nr. 48/2021 - An den Taten messen
Überraschungen hatte der Koalitionsvertrag der Ampelparteien nicht zu bieten. Die Weichen sind auf mehr Umwelt- und Klimaschutz gestellt. Überrascht hat dagegen die Entscheidung, Cem Özdemir als Minister für Ernährung und Landwirtschaft zu benennen. Was das für die Landwirtschaft bedeutet, hängt vor allem davon ab, wie ernst die Ampelkoalitionäre ihren eigenen Vertrag nehmen.
Jetzt ist dann auch wieder gut mit der Stänkerei! Sicher zeugte es nicht von Kompetenz, was Cem Özdemir in einem Interview vom Stapel gelassen hatte. Schweinen werden nun mal nicht die Rüssel abgeschnitten; allenfalls bekommen sie die Schwänze kupiert. Ein solcher Patzer wie vor acht Jahren wird dem Politiker aus dem Realo-Flügel der Grünen sicher nicht wieder unterlaufen. Schon gar nicht in seiner neuen Rolle als Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft. Dafür ist der Mann aus Schwaben zu lange im Politikgeschäft, um nicht zwischen der Rolle des Einpeitschers (damals) und des Mitregierenden (künftig) unterscheiden zu können.
Überstrapaziert wurde in den vergangenen Tagen gerne auch, dass Özdemir als Sozialpädagoge keinen fachlichen Hintergrund für die Aufgabe mitbringt. Viel mehr Sachverstand hatten seine Vorgänger bei Amtsantritt aber auch nicht. Vielleicht ein wenig mehr die scheidende geschäftsführende Agrarministerin Julia Klöckner als ehemalige Weinkönigin und Tochter eines Winzers. Deutlich weniger Christian Schmidt, der als Jurist aus dem Verteidigungsministerium kommend, gerne betonte, er könne nicht nur Panzer, sondern auch Mähdrescher. Mit der Radio- und Fernsehtechnikerin Ilse Aigner oder dem Verwaltungsdirektor Horst Seehofer holte sich Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel schließlich auch nicht gerade ausgewiesene Experten für Landwirtschaft und Ernährung ins Kabinett. Wozu also die Aufregung? Schlechter als bei seinen Vorgängern sind die Voraussetzungen somit nicht.
Was Özdemir im künftigen Amt leisten wird, hängt auch nicht davon ab. Vielmehr hängt es von seiner Persönlichkeit ab (siehe S. 10) und davon, was die Ampel sich mit dem Koalitionsvertrag (siehe S. 9) selbst auferlegt hat. So schimmert im Agrarteil die Handschrift von Renate Künast, ebenfalls Grüne, durch. Die wurde im Zuge der BSE-Krise Chefin im Agrarressort. Damals hatten viele Landwirtinnen und Landwirte erstmals das Gefühl, dass ihr Ministerium nicht mehr für ihre Interessen da ist. Das kommt nun wieder hoch.
Die Befürchtungen sind nachvollziehbar, vor allem wenn man den Teil der Koalitionsvereinbarung durchforstet, der die Nutztierhaltung betrifft. Blutdruck erhöhend dürfte bei manchem Tierhalter zudem wirken, dass Özdemir seit seiner Jugend bekennender Vegetarier ist. Wenig beruhigend wirkt außerdem, welchen Stellenwert die Ampel dem Klimaschutz und der Verringerung von Treibhausgasen einräumt. Anstrengungen verlangen die Koalitionäre dabei beileibe nicht nur von der Landwirtschaft. Aber wenn es um ihren Beitrag dazu geht, stehen die Tierbestände ganz oben und die Botschaft dazu ist eindeutig: Wir wollen weniger. Die Landwirtschaft kann versuchen, dagegen Sturm zu laufen. Viel Hoffnung darf man allerdings nicht haben, dabei bedeutend Boden gutzumachen. Oder anders ausgedrückt: Die Landwirtschaft ist gut beraten, im Umgang mit der neuen Regierung nicht auf Konfrontation zu schalten. Sie dort beim Wort zu nehmen, wo sie sich selbst in die Pflicht nimmt, dürfte der Weg sein, bei dem für die Landwirtschaft noch am meisten zu gewinnen ist. Das klare Bekenntnis zu einem kooperativen Naturschutz – ein Weg, der im Rheinland schon lange beschritten wird – zeigt, dass seitens der Koalition die Türen nicht verschlossen sind.
Nicht zuletzt halten die Koalitionäre neben dem Klimaschutz eine weitere Fahne ganz hoch. Und die trägt die Farben Europas. Schon im landwirtschaftlichen Teil ihres Vertrags versäumen es die künftigen Regierungspartner nicht, auf die europarechtlichen Aspekte und Erfordernisse hinzuweisen. Dies dürfte sicher nicht als bequemer Rückfallposten gedacht sein, um dann die Schuld der EU zuzuschustern, sollten sich zum Beispiel Haltungs- und Herkunftszeichen oder der Umgang mit Pflanzenschutzmitteln nicht nach ihren Vorstellungen durchsetzen lassen. Dafür ist an anderen Stellen des Vertrags das Bekenntnis zur EU und zu einer Stärkung der Position der Staatengemeinschaft und ihrer gemeinsamen Regelungen zu klar und unmissverständlich . An dieser Haltung muss sich die neue Regierung dann auch in Fragen der Landwirtschaft messen. Denn einem fairen Wettbewerb auf dem Binnenmarkt und gegenüber Importware, die nach vergleichbaren Standards erzeugt wurde, können sich die heimischen Landwirte stellen. Das gelingt aber nur, wenn die Ampelkoalitionäre und mit ihnen Cem Özdemir das eigene Bekenntnis zu Europa wirklich ernst nehmen.